Die Ortsbilder im Wandel
Im Rheintal haben sich in den letzten Jahren viele Dörfer optisch stark verändert. Alte Häuser sind verschwunden, neue entstanden. In Widnau fällt die rasante Entwicklung besonders auf. Ein Augenschein mit Architekt Jesco Hutter.
Cécile Alge
Eigentlich hätten wir ein Gespräch über kubische Bauten führen sollen. Quasi «quadratisch, praktisch, gut». Nun, das ist einfacher gesagt als getan, wenn man es mit Jesco Hutter tut. Denn mit ihm kommt man automatisch auch auf viele andere Themen zu sprechen: Zeitgeist, Musik, Länder, Reisen, Völker, Familiengeschichten, seine aktuellen Architekturprojekte, etc. Der 48-jährige gebürtige Diepoldsauer arbeitet seit 25 Jahren als selbständiger Architekt und ist seit einigen Jahren Gesellschafter des international tätigen Unternehmens Baumschlager Hutter GmbH mit fünf Standorten und vielen Mitarbeitenden. Er ist ein interessierter, umtriebiger Zeitgenosse und gerne «around the globe» unterwegs.
Vom Bauerndorf zur Stadt
Wie gesagt, wollen wir uns den «Klötzen», «Kisten», «Boxen» oder «Schachteln» widmen, wie sie im Volksmund genannt werden. Sie schiessen vielerorts wie Pilze aus dem Boden und verändern ganze Dorfbilder. «In Widnau fällt diese Entwicklung besonders auf, weil viele davon Geschäfts- und Mehrfamilienhäuser sind und sich an zentraler Lage befinden», so Hutter. Dabei ist es erst knapp hundert Jahre her (also zwei, drei Generationen), dass noch Kieswege zu den Bauernhäusern führten, dass in deren Gärten riesige Obstbäume standen und dass man von der Hauptstrasse noch fast bis zum Bahnhof in Heerbrugg sah. Mittlerweile zählt Widnau knapp 9500 Einwohner und wird wohl bald eine Stadt sein. Dieses rasante Wachstum spiegelt sich eben auch in der Optik. Das einstige Bauerndorf mutet urban an, nur wenige alte Häuser blieben erhalten.
Von Beton bis Kunststoff
Dafür gab es in den letzten Jahren geradezu einen architektonischen Wildwuchs, wie wir auf unserem Augenschein durchs Dorf feststellen. Die Vielfalt ist wirklich enorm. Den Farben, Formen und Materialien wurden kaum Grenzen gesetzt, weder bei den Häuserfassaden noch bei den Balkonen und Garteneinzäunungen. Von Beton bis zu Holz, von Kunststoff bis zu Blech – alles vorhanden. Es gibt gelungene Beispiele und andere. An dieser Stelle wollen wir weder werten noch urteilen, denn Bauen und Wohnen ist Geschmackssache. Und eigentlich hatten wir ja im Sinn, den Aspekt «quadratisch, praktisch, gut» zu thematisieren. Doch eben, im Gespräch über bauliche Veränderungen und Entwicklungen, schweifen wir immer wieder ab, weil uns auf unserer Runde unweigerlich viel Anderes auffällt: ein in Metall gepacktes Haus, aneinandergereihte Fertiggaragen, ein rar gewordenes Haus aus Urgrossmutters Zeiten, die vertraute «Viscose-Siedlung», und, und, und. Ja, es hat sich viel verändert in den letzten Jahren.
Funktionalität im Zentrum
Und plötzlich sind wir am Ende unserer Gesprächszeit angelangt, ohne vertieft auf die kubischen Häuser eingegangen zu sein. Deshalb einfach noch eine letzte, grundsätzliche Frage: was hat sich von der früheren Bauweise zur heutigen am stärksten verändert? «Früher hat sich ein Gebäude aus den Bedürfnissen einer Familie ergeben. Eine grosse Bauernfamilie mit Tieren bewohnte ein Haus mit Stall und pflegte meistens auch einen Gemüse- und Obstgarten. Da stand die Funktionalität im Vordergrund. Heute wird viel mehr Wert auf den Wohnkomfort gelegt, pro Kopf hat sich die Wohnfläche enorm vergrössert», so der Architekt Jesco Hutter. Und diese Entwicklung ist eben auch mitverantwortlich dafür, dass sich die Dörfer optisch verändern – gerade in den Zentren. Man baut in die Höhe und nützt die Platzverhältnisse aus. Kubische Häuser sind dafür ideal. Damit wären wir also wieder beim Thema. Übrigens, diese «modernen Klötze», wie sie gerne genannt werden, sind gar nicht so «modern», wie man vielleicht denken mag. Jesco Hutter erklärt: «Vergleicht man sie mit herkömmlichen Bauernhäuser (oftmals mit Stallanbau), hat sich die Form der Baukörper kaum verändert. Viele alte Häuser waren schlicht, quadratisch und funktional. Das ist auch bei den heutigen kubistischen Gebäuden so», sagt Jesco Hutter. Aber durch die Materialwahl, die vielen Fenster und das Weglassen des Dachs werde eine völlig neue Optik erzeugt. «Man kann also sagen, hier kommt das Moderne aus der Tradition», schliesst Hutter.